Poecilia obscura – eine kryptische Guppyart

Der Guppy (Poecilia reticulata) schwimmt zu Millionen und Aber­millionen in den Becken von Aquarianern und Aquarianerinnen weltweit. Ob durch absichtliche oder zufällige Aussetzungen findet man ihn wildlebend in allen tropischen Ländern der Erde. Die populäre und die wissenschaftliche Literatur über ihn füllt Bände. Und dennoch gibt es mehr offene als beantwortete Fragen über den Guppy.

Wildguppy, Poecila reticulata, Population von Jamaica.

Seit der Entdeckung des Guppys durch die Naturwissenschaften im Jahr 1859 gibt es dieses Problem, was sich unter anderem in den zahlreichen Doppel­be­schreibungen (Synonymen) der Art wider­spiegelt. Guppys sind nämlich extrem vari­abel. Das bezieht sich nicht nur auf die Fär­bung, sondern auch auf die Körperform. Somit stellt der Guppy die naturwissen­schaftliche Gemeinschaft vor die philo­sophische Frage, ob unser Konzept von erblich fixierten Tierarten stimmt. Gibt es so etwas wie eine „Art“ überhaupt und wenn ja, wie ist sie zu definieren?

Poecilia obscura, die zuletzt beschriebene Guppyart

Diese Frage stellt sich der Biologie zwar ununterbrochen, tatsächlich besteht eine der Hauptaufgaben der wissenschaftlich arbeitenden Zoologen darin, Antworten auf sie zu finden, aber kaum eine Tierart macht es den Zoologen so schwer wie der Guppy. Warum ist das so?

Zunächst einmal: alles spricht dafür, dass es Arten gibt und dass der Mensch auch in der Lage ist, sie zu erkennen. Es ist für den Menschen seit jeher überlebensnotwendig, Arten erkennen zu können, denn der Verzehr eines Knollenblätterpilzes ist unbedingt tödlich, der eines sehr ähnlich aussehenden Champignons hingegen kann in Zeiten von Nahrungsmangel das Überleben sichern. Die von den Botanikern und Zoologen auf­gestellten Artdefinitionen anhand bestimm­ter, dem Laien möglicherweise lächerlich un­be­deutsam erscheinender Merkmale orien­tieren sich darum an äußerlichen, erkenn­baren Merkmalen. Bei den Fischen sind das z. B. die Anzahl der Schuppen und der Flossen­strahlen oder die Angabe von als artcharak­teristisch er­kannten Körperproportionen, also etwa das Verhältnis der Schwanzlänge im Vergleich zur Körperhöhe etc.. Dabei darf man nie Ursache und Wirkung verwechseln. Eine neue Art wird nicht dadurch entdeckt, dass ein gelangweilter Museumszoologe Schup­pen und Flossenstrahlen zählt. Es ist vielmehr umgekehrt. Nach jahre- und jahr­zehnte­langem Studium einer Tiergruppe ent­wickelt der Spezialist einen Blick dafür, eine neue Art intuitiv zu erkennen.

Ein Wildguppy aus Peru.

Wildguppy aus Venezuela

Wildguppy aus Paraguay – wohl eher ein verwilderter Hausguppy

Guppywildfänge sind nicht automatisch Wildguppys. Diese Fische stammen aus Guinea, Westafrika. Ob sie von verwilderten Hausguppys abstammen oder eine ausgesetzte Wildpopulation zur Moskitobekämpfung darstellen, ist nicht bekannt und lässt sich auch kaum recherchieren.

Entdeckt dieser Spezialist dann eine neue Art auf diese Weise, ist es der zweite Schritt, sie so zu beschreiben, dass jeder interessierte Nicht-Spezia­list sie problemlos anhand der be­schriebenen Merkmale identifizieren und von anderen, ähnlichen Arten unterscheiden kann. Eine gute wissenschaftliche Beschrei­bung unterscheidet sich von einer schlechten wissenschaftlichen Beschrei­bung immer objektiv dadurch, wie gut es dem Spezialisten gelingt, dem Nicht-Spezi­alisten seine Erkenntnisse zu vermitteln. Eine extrem variable Art, wie der Guppy, der sich in Abhängigkeit vieler Umwelteinflüsse binnen kürzester Zeit äußerlich so verändern kann, dass es selbst dem Spezialisten nicht möglich ist, ihn allgemeingültig zu be­schreiben, macht daher naturgemäß dem Wissenschaftler das Leben schwer.

Da Naturwissenschaftler nach Erkenntnis stre­ben, ist es nur konsequent, dass bei harten Nüssen, wie dem Guppy, immer die modern­sten Methoden getestet werden, sie zu knacken. In den vergangenen 30 Jahren war es vor allem die Verhaltensforschung und die klassische, mendelsche Vererbungslehre, die Erkenntnisse über die Ur­sachen brachten, warum der Guppy so extrem variabel ist. Befriedigende Antworten auf die Frage, ob alle Guppys einer Art angehören, oder ob es doch verschiedene Guppyarten gibt, lieferten diese Methoden aber nicht.

Poecilia wingei, der Endler-Guppy, ist als eigenständige Art von den meisten Wissenschaftlern anerkannt.

Als 2005 eine neue Guppyart von Poeser et al. als Poecilia wingei beschrieben wurde und sich die Beschreibung zu einem großen Teil auf Verhaltensmerkmale stützte, war die Reak­tion in der wissenschaftlichen Welt ebenso ge­teilt wie unter Aquarianern. Während manche der Abgrenzung des als „Endler Guppy“ schon lange im Hobby vertretenen P. wingei gegen den „normalen“ Guppy (P. reticulata) spontan folgen konnten, argu­mentierten andere, dass die Merkmale des Endler Guppys erstens auch nicht wesentlich konstanter seien, als die zahlreicher anderer Guppypopulationen und dass zweitens beide „Arten“ im Aquarium problemlos und beliebig gekreuzt werden können.

Einschränkend hierzu muss allerdings ge­sagt werden, dass Kreuzbarkeit zweier In­divi­duen an sich kein Argument dafür ist, dass es sich bei den beiden gekreuzten Tieren um Angehörige der selben Art handelt. Erst die uneingeschränkte Fruchtbarkeit über die vierte Inzuchtgeneration hinaus wird als Artkriterium anerkannt. Treten vorher Ein­schränkungen in der Fruchtbarkeit auf spricht einiges dafür, dass es sich um verschiedene Arten handelt.

Methodische Fehler können bei der Kreuzungsmethode aber nur selten ausgeschlossen werden, wes­halb die Kreuzbarkeit (bzw. die Sterilität von Kreuzungstieren) als Artkriterium alleine nicht ausreichend ist. Vor einiger Zeit wurde eine dritte Wild­guppyart wissenschaftlich beschrieben und als Poecilia obscura benannt. Genetische Analysen von P. obscura, P. reticulata und P. wingei zeigten, dass es sich bei allen drei Arten um – stammesgeschicht­lich gesehen – alte Arten handelt und keineswegs um ge­rade in der Entstehung begriffene Arten mit einer demzufolge breiten genetischen Streuung.

Allerdings – auch das muss gesagt sein – beruhen diese genetischen Analysen auf der zwar durch manche Indizien ge­stützten, aber keines­wegs bewiesenen An­nahme, dass Evolution ein berechenbarer Prozess ist, dem etwas zu Grunde liegt, das man als „genetische Uhr“ bezeichnet. Diese These besagt, dass Mutationen (also Ver­än­derungen im Erbgut, die letztendlich zur Aus­bildung neuer Arten führen) nicht spon­tan und ungeregelt auftreten, sondern einer Gesetzmäßigkeit folgen, die es erlaubt den Zeitpunkt zu berechnen, an dem sich zwei heute als verschiedene Arten existierende Lebewesen aus einem gemeinsamen Vor­fahren entwickelt haben.

Männchen von Poecilia obscura aus dem Rio Oropuche, Trinidad, der Typuslokalität

Das gleiche Männchen von P. obscura, anderes Licht.

Weibchen von Poecilia obscura aus dem Rio Oropuche.

Leider gibt es keine Merkmale, die es ohne genetische Analyse erlauben, die neue Wild­guppyart zweifelsfrei zu erkennen. Das ein­zige Merkmal, das für Aquarianer brauchbar erscheint, die neu beschriebene Art zu erkennen, ist die Anzahl der Rückenflossen­strahlen. Poecilia obscura hat fast immer 6 Rückenflossenstrahlen, die beiden anderen Guppyarten fast immer 7. Die Autoren der neuen Guppyart haben nun erstmals eine Fischart beschrieben, die sich mit Sicherheit ausschließlich nach genetischen Analysen er­kennen lässt. Diese Methode ist allerdings den wenigsten Menschen zugänglich und gelingt auch bei Museumsmaterial nur dann, wenn die konservierten Tiere in Alkohol und nicht in Formalin fixiert wurden. Werden wir in der Zukunft eine Zwei-Klassen-Wissen­schaft bekommen, in der die exakte wissen­schaft­liche Benennung einer Tierart nur noch wenigen mit der erforderlichen Labor­ausrüstung versehenen Angehörigen ei­ner wissen­schaft­lichen Elite möglich sein wird?

War­ten wir es ab und bleiben wir neugierig……….

Frank Schäfer


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Über den Autor Frank Schäfer

Frank Schäfer, geboren 1964, Biologe, seit frühester Jugend Tier- und Pflanzenhalter aus Leidenschaft. Sein besonderes Interesse gilt seit jeher den Fischen, aber Reptilien, Amphibien, Wirbellose, Kleinsäuger und Vögel sowie eine Vielzahl von Pflanzen begeistern ihn ebenso.

Seit 1980 Mitglied im Verein für Aquarien- und Terrarienkunde Hottonia e.V., dort seit 1982 auch immer wieder Vorstandsämter (Gartenwart, Redakteur der Vereinszeitschrift, 1. Schriftführer), seit 1982 Mitglied in der Internationalen Gemeinschaft für Labyrinthfische (IGL), seit 1992 auch im European Anabantoid Club (EAC). Erste Fachartikel über Pflege und Zucht von Puntius vittatus, Macropodus opercularis, Trionyx ferox und Polypterus senegalus in der Hottonia-Post 1981; erste große Fischfangreise in die Tropen 1983 nach Sumatra, worüber anschließend zahlreiche Aufsätze in der Hottonia-Post, der Zeitschrift „Der Makropode“ und „Das Aquarium“ erschienen; von da an regelmäßig Publikationen in vielen aquaristischen Fachzeitschriften, sowohl national wie auch international. Seither außerdem jährlich mehrere Dia-Vorträge auf nationalen und internationalen Tagungen.

Studium der Biologie in Darmstadt von 1984-1989, Abschluss als Diplom-Biologe mit den Prüfungsfächern Zoologie, Botanik, Ökologie und Psychologie. Diplomarbeit bei Prof. Ragnar Kinzelbach zum Thema „Wirtspezifität der Glochidien von Anodonta anatina“.

Zahlreiche Fang-, Sammel- und Studienreisen in das europäische Ausland, die Türkei, Sambia und vor allem Indien; Forschungsschwerpunkt ist die Süßwasserfischfauna des Ganges mit dem Ziel einer kompletten Revision der Arbeit von Francis Hamilton (1822): An account of the fishes found in the river Ganges and its branches. Edinburgh & London. Wissenschaftliche Erstbeschreibung von Oreichthys crenuchoides und gemeinsam mit Ulrich Schliewen von Polypterus mokelembembe. Wissenschaftliche Besuche und kurzzeitige Arbeiten in den zoologischen Sammlungen von London, Paris, Brüssel, Tervueren, Wien, Berlin, Frankfurt und München.

Seit 1996 bis heute Redakteur bei Aqualog und wissenschaftlicher Mitarbeiter zur Fischbestimmung bei Aquarium Glaser, Rodgau. In dieser Zeit verantwortlich als Autor oder Co-Autor von über 20 Büchern und über 400 größeren Fachartikeln, nicht nur bei Aqualog, sondern bei nahezu allen deutschsprachigen Fachverlagen, vereinzelt auch in internationalen Publikationen. Seit 2009 Betreuung der Homepage und des Newsletters bei Aquarium Glaser mit 3-5 Posts pro Woche. Nach wie vor leidenschaftlicher Tier- und Pflanzenpfleger, quer durch den Gemüsegarten: Aquaristik (Süß- und Seewasser), Terraristik, Teichpflege, Kleinvögel.

Frank Schäfer ist verheiratet und hat zwei Töchter, die 1989 und 1991 geboren wurden.

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Ein Kommentar zu “Poecilia obscura – eine kryptische Guppyart

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