Schwimmende Nesselmützchen: Velella velella.

Unser erster Urlaubstag in der Provence in diesem Jahr ist ein Regentag. Mich stört das wenig. Das ganze Land ist ausgedörrt, die Behörden haben überall die Stauden-und Gras-Vegetation roden lassen, um die extreme Waldbrandgefahr wenigstens etwas zu reduzieren. Auf dem Gelände, das mir im vergangenen Jahr unzählige Beobachtungen an Pflanzen und Tieren ermöglichte – es handelt sich um einen sehr lichten Wald, eher eine parkartige Landschaft, mit hauptsächlich Kork-Eichen und Pinien – gibt es nichts als kahle Flächen, die einen ziemlich trostlosen Anblick bieten. Keine Spur von den wilden Gladiolen, Orichideen und Traubenhyazinthen, die hier letztes Jahr um die Wette blühten. Leider auch keine Spur von Reptilien oder Amphibien. Aber natürlich sind sie da, die Pflanzen haben ihre unterirdischen Speicherorgane, die Reptilien und Amphibien gute Verstecke, die ihnen erlauben, solche Dürrephasen zu überleben. Für mich heißt das aber: hier ist derzeit tote Hose, also ab an den Strand.

Ein Regentag am Strand ist gar nicht so verkehrt, da hat man seine Ruhe und Angespültes ist in viel besserem Zustand, als wenn die Sonne brennt. ich schlendere also so vor mich hin und denke auf einmal, da habe irgend ein Assi Scherben von blauen Glasflaschen entsorgt. Auf viele Meter leuchtet es mir überall blau entgegen, die Scherben sind etwa 5 cm groß. Das kann doch nicht wahr sein! Ist es auch nicht. Es handelte sich nämlich nicht um Glasscherben, sondern um eine ganz und gar eigenartige Quallenart, die Hydrozoen-Kolonie Velella velella, auch als Segelqualle bekannt.

Da kommen sie!

Gestrandete Segelquallen

Velella velella ist ein Kosmopolit, kommr also auf der ganzen Welt in warmen und gemäßigten Meeren vor. Es gibt nur die eine Art in der Gattung. Sie ist ein Mitglied einer sehr eigenartigen Artengemeinschaft, die man Neuston oder manchmal auch Pleuston nennt – so wie mann die Arten, die frei in der Wassersäule driften, als Plankton bezeichnet. Im Neuston leben Arten, die an der Wasseroberfläche leben und kaum oder gar nicht beeinflussen können, wohin es sie verschlägt. Die Segelqualle besitzt ein gallertartiges, aber festes Segel, das wie ein dreieckiges Mützchen über die Wasseroberfläche ragt. Dieses Segel besteht aus chitinartigen Subsatnzen. Chitin ist der Stoff, aus dem die Panzer der Insekten gemacht sind, also ein sehr robustes Material. Durch dieses Segel wird Velella vom Wind über die Ozeane der Welt verdiftet. Die Segelqualle gehört zu den wenigen Tierarten, die in zwei Varianten mit entgegengesetzter Symetrie existieren, etwa vergleichbar Schneckenarten, die links- und rechtsdrehende Gehäuse haben oder Plattfische, bei denen die linke oder die rechte Seite zur sehenden Seite werden kann. Schaut man nämlich von vorn auf die Velella, so sieht man, dass das Segel schräg ausgerichtet ist. Bei gestrandeten Velella ist das Segel bei allen Tieren nach der gleichen Seite ausgerichtet (in meinem Fall von hinten links nach rechts vorn), aber es gibt auch Exemplare mit der entgegengesetzten Ausrichtung. Da der Wind bei nach links ausgerichteten Segeln anders angreift als bei rechts ausgerichteten, wird so wohl verhindert, dass alle Segelquallen einer Population zugleich angespült werden und verenden. Der Erbgang dieses Phänomens und wie es letztendlich erhalten bleibt (sich also evolutionär nicht doch früher oder später die eine Form durchsetzt) sind ungeklärt.

Das „Segel“ ist bei Velella schräg zur Körperlängsachse platziert. Im Randgewebe als braune Kügelchen erkennbar: Chrysomitren

Was wir für das „fertige“ Tier halten, ist in Wirklichkeit ein steriles, eingeschlechtliches Zwischenstadium. Man kann das am besten mit den Kryptogamen im Pflanzenreich vergleichen, also den Farnen, Moosen, Bärlappen etc. Auch sie sind nicht zur sexuellen Fortpflanzung fähig, die erwachsene Pflanze produziert auf asexuellem Weg Sporen. Die Sporen keimen und bilder Spermien und Eizellen, die sich (ausreichend Feuchtigkeit vorausgesetzt) verpaaren und zu einer neuen Keimpflanze entwickeln.

Alle Velellia sind entweder männlichen oder weiblichen Geschlechts; äußerlich sichtbare Unterschiede der Geschlechter gibt es m.W. nicht. Velellia produzieren aber keine Spermien oder Eizellen, wie man das von einem „normalen“ Tier erwartet, sondern winzig kleine Medusen (Chrysomitren), also Mini-Quallen, die noch kein Segel haben. Dem bloßem Auge erscheinen sie als weniger als 1 mm große, transparente, in der Masse bräunliche Kügelchen.Von diesen Chrysomitren produzieren sie wahre Unmengen. In einem kleinen Aquarium, in das man ein paar gestrandete Segelquallen setzt, ist der Boden bald bedeckt mit Chrysomitren. Da diese Medusen auf ungeschlechtlichem Weg produziert werden, haben sie das gleiche Geschlecht wie das „Elterntier“, es gibt also männliche und weibliche Chrysomitren. Sie sind zunächst bewegungsunfähig und sinken. Eine bis heute herausragende Arbeit über die Entwicklungsbiologie von Velellia verfasste Richard Woltereck 1904. Er fand diese Larven der Velellia in über 1000 m Tiefe und beschrieb äußerst detailliert die anatomischen Veränderungen des Geschöpfes wärend der Verwandlung zum Geschlechtstier und zur an der Wasseroberfläche segelnden Velella. Ich möchte hier etwas ausführlicher als üblich aus dem einleitenden Text seines Werkes zitieren, weil es mich sehr beeindruckt:

Das fertige Segelquallenstadium nennt man Rataria.

Auftreten und Herkunft der Velella-Schwärme.

Wenn ich unsere Mittheilungen gerade mit der Entwicklung von Velella beginnen möchte, so liegt darin eine Anerkennung des Umstandes: im Engern, dass der unsern Fängen dienende, elegante Stationskutter ihren Namen trägt, im Weitern, dass diese schöne Siphonophore als die ausgesprochenste Charakterform der Cote d’azur angesehen werden kann, wie schon Vogt, Leuckart u. A. betont haben. Auch den Fischern ist die „Velette“ wohl das bekannteste der nicht nützlichen Seethiere, wenn auch ein wenig beliebtes, was man Angesichts der Wälle von verwesenden Velellen, die von den an die Küste getriebenen Schwärmen zeugen, leicht versteht. Diese Wälle — nicht selten über 1/2 m breit und hoch und 1 Kilometer lang — werden von der Brandung zusammengehäuft, nachdem Wind und Strom die Schwärme in die Buchten und an den Strand getrieben haben. Die Strömungen spielen dabei eine grössere Rolle, als man denkt. Ich konnte einmal (1902) an einem ruhigen Tage von der Höhe des Mont Alban bei Villefranche die Annäherung eines grossen Schwarmes beobachten. Mir fiel eine compacte Masse von dunkler Färbung auf, die sich vom Horizont her als langer hin und her gebogener Streif der Küste näherte — einer jener hellen Bahnen folgend, die man oft von erhöhtem Standpunkt auf dem ruhigen Meere bemerken kann. Erst später wurde ich über die Natur des Phänomens aufgeklärt, denn Abends war die Bucht von Villefranche mit Velellen übersät.

Diese Anhäufungen illustriren am besten die schwer vorstellbare Massenhaftigkeit ihres Auftretens, die den oceanischen Schwärmen, so weit ich nach dem subtropischen und tropischen Atlantic beurtheilen kann, kaum etwas nachgiebt.

Woher kommen diese Schwärme? Bekanntlich hat man auch in dem so gut durchforschten Mittelmeer noch nie die planktonischen Entwicklungsstadien der Velella gefunden, auch die in Unzahl von jedem Floss abgestossenen Chrysomitren findet man niemals geschlechtsreif. (Mit je einer Ausnahme werden wir uns später beschäftigen.) Es kann daher nicht Wunder nehmen, wenn die Ansicht geäussert wird, die Velellen seien nicht mediterraner, sondern atlantischer Herkunft und wie Porpita und die sehr selten auftretende Physalia durch die Gibraltar-Enge herein getrieben (für Physalia mag diese Vermuthung zutreffen). In dieser Vermuthung kann man bestärkt werden, wenn man bedenkt, dass die Thiere im Mittelmeer während der unruhigsten Monate gefunden werden — für Velella und Neapel giebt Lo Bianco April (Villefranche: Februar) bis Juni und October bis December an — trotzdem sie durch ihre Lebensweise dringend auf ruhige See angewiesen und deshalb auch vorzugsweise in den Passatregionen der Oceane zu Hause sind. Bei Velella ist wie bei allen echten Meeresspiegelbewohnern (z. B. auch Glaucus und Halobates, der durchaus nicht tauchen kann und übrigens ebenfalls, wie ich in West-Afrika sah, gelegentlich zu Millionen auf den Strand geworfen wird) die Lebensdauer einer Generation sehr begrenzt. Das nächste nach ihrem Auftauchen aus dem Wasser einsetzende schlechte Wetter muss sie auch auf offenem Meer vernichten, sobald sich überschlagende Wellen entstehen und die Velella-Flösse zum Kentern bringen. Man kann sich leicht überzeugen, dass eine einmal unter Wasser gerathene V. nicht wieder in ihre natürliche Lage zurückkehren kann. Daher die Mengen von bis auf die Luftflasche verwesenden Velellen und Porpiten, denen nach schlechtem Wetter das Schiff oft noch Tage lang begegnet. Diese Kurzlebigkeit erklärt auch die Quantität der von jedem Floss gelösten Geschlechtsmedusen und das Auftreten in so riesigen Schwärmen (cf. Eintagsfliegen).

Bei der Rataria gut sichtbar: die Wehrtentakeln. Für Menschen ist Velella völlig harmlos, im Gegensatz zu ihrer nahen Verwandten, der Portugiesischen Galeere (Physalia), einem der gefährlichsten Nesseltiere überhaupt, das jedoch im Mittelmeer nur ausnahmsweise vorkommt.

Trotz ihrer unverständlichen Vorliebe für die Aequinoctien müssen wir aber die Velellen als im Mittelmeer heimisch betrachten, vielleicht als heimisch geworden und noch an den — unbekannten — atlantischen Gesetzen im Auftreten der Generationen festhaltend. Zunächst ist es nicht einmal möglich, diese Gesetze für das Mittelmeer sicher zu stellen. Wenn wir die auf langjähriger Erfahrung beruhenden Angaben Lo Bianco’s als Grundlage nehmen, so ergeben sich zwei 3 monatliche Schwärmzeiten mit zwei ebenfalls 3 monatlichen Pausen dazwischen im Sommer und Winter. Während dieser Ruhezeiten können wir uns die Schwärme durch unreif bleibende Chrysomitren oder vielleicht besser — Angesichts der rudimentären Manubrien — durch Dauerstadien der Eientwicklung repräsentirt denken. 

Während jeder Schwärmzeit dürften mehrere Generationen anzunehmen sein; allerdings sind meine Daten für die Generationsdauer noch mehrdeutig und lückenhaft.

1903 konnte in Villefranche constatirt werden: Ende Januar im Auftrieb einzelne der noch zu beschreibenden „Conarien“ und Uebergangsstadien zur Rataria. Ende Februar: ein Velellenschwarm, dessen Leichen bis Mitte März an der Oberfläche trieben. Im Auftrieb Chrysomitren. Anfang März: Conarien und junge Ratarien, an Zahl bis Mitte d. J. zunehmend, die meisten in Tiefenfängen, einige im Auftrieb. Ende März: auf dem Meer eine ungeheure Menge jüngster und junger Ratarien, zwischen denen dann mehr und mehr grössere Velellen auftraten, bis auch dieser Schwärm Anfang Mai an der Küste zu Grunde ging.

Natürlich lässt sich danach noch durchaus nicht entscheiden, ob wir es, wie es immerhin den Anschein hat, mit 2 Generationen zu thun haben, deren erste im Januar als Larven, im Februar als Colonien auftrat, während die von ihren Geschlechtsmedusen erzeugte zweite Generation in den Larven von Anfang März und dem jungen Schwärm vom Ende dieses Monats zu suchen wäre.

Die Larven und der Entwicklungskreis der Velella.

Nur einmal sind bisher geschlechtsreife Chrysomitren beobachtet worden, und zwar in der Strasse von Messina, deren Auftrieb vermöge der Strömungsverhältnisse dadurch ausgezeichnet ist, dass in ihm auffallend viel Tiefseeformen (z. B. Radiolarien, Cephalopoden) gefunden werden. Metschkikoff (in: Arb. zool. Inst. Wien, V. 6) beobachtete in den rudimentären Manubrien derselben entweder Sperma, oder es war nur eine Gonade entwickelt und enthielt ein einziges grosses Ei mit purpurrothem Dotter.

Das nächste bekannte Stadium ist die durch Chun (in : Verh. D. zool. Ges., 7. Vers., Kiel) von den Canaren beschriebene einkammerige Rataria mit offenem Primärporus, an der ein „rundlicher Sack von rothbrauner Färbung“ auffällt, der „central unter einer kegelförmigen Erhebung des Bodens der Pneumatophore“ liegt.

Dieses Pigment ist das einzige, was uns bei den jetzt im Tiefenplankton gefundenen Larven, die in ihrer Mitte einen intensiv roth gefärbten Zapfen oder Kegel tragen, auf die Zusammengehörigkeit mit Velella hinweisen könnte. Im übrigen ist ihre Organisation so eigenartig, dass mir ihre Natur erst klar wurde, als ich im März 1903 die nöthige Reihe von Uebergangsstadien zur Rataria erhielt. Schon früher waren mir (1902) 2 oder 3 solcher Larven aufgefallen, aber unverständlich geblieben. In Villefranche waren bereits, wie eben erwähnt, im Januar 1903 einzelne solche Larven nebst Uebergangsformen durch Dr. Neresheimer gefunden und erkannt worden (ich möchte auch bei dieser Gelegenheit Herrn Dr. Neresheimer für die freundliche Ueberlassung mehrerer von ihm conservirter Larven meinen besten Dank aussprechen), und zwar im Oberflächenplankton; auch im März wiederholten sich solche Einzelfunde, während gleichzeitig Tiefenfänge aus 600, 800 und 1000 m eine grössere Anzahl Conarien zu Tage förderten.

Fig. 1 und 2 nach dem Leben. 60 : 1. Junge tentakellose und kurz vor der Metamorphose stehende Conaria, bei beiden oben Porus der Planula = Primärzoid; die untere Oeffnung der Fig.1 entspricht dem (nach oben geschlagenen) Limbusrand der Fig. 2, welche unten den (verschlossenen) „Primärporus“ der Luftflasche zeigt. Rechts darüber ein „Secundärporus“ als hellerer Fleck angelegt, seitlich erste Anlage des Segels. aus Woltereck, 1904, Tafel 17

Da diese Fänge jedoch mit offenen Netzen erzielt wurden, handelt es sich nur um eine Wahrscheinlichkeit, wenn wir als eigentliche Heimath der Velella-Larven die Tiefsee betrachten, eine Wahrscheinlichkeit allerdings, die noch durch verschiedene Gründe gestützt wird. Da ist zunächst der Umstand, dass diese grossen und auffallenden Larven, die doch in ungeheuren Massen vorhanden sein müssen, in dem so lange, so oft und so vieler Orts untersuchten Mittelmeerplankton bisher unbekannt geblieben sind. Ferner, dass die wohlbekannten Chrysomitren, die jeder Schwarm in unermesslichen Wolken producirt, immer aus dem Oberflächenplankton verschwinden, ehe sie geschlechtsreif werden, wobei die Ausnahme von Messina gerade die Regel bestätigt. (Auch bei Nizza werden übrigens auffallend viel Tiefenformen ohne Tiefseenetze erbeutet, wie Jedem klar wird, der die Vorräthe der freres Gal an (auf dem Fischmarkt erworbenen) Scopeliden, Argyropelecus, Abralia, Loligopsis etc. etc. durchmustert. Auch hier kann demnach vielleicht ein Aufströmen von Tiefenwasser an der Küste angenommen werden.) Sodann könnte man, wenn wir die Bedeutung des so vielen Tiefseebewohnern zukommenden rothen Pigments kennten, auch dieses, das in der blauen Rataria sogleich verschwindet, als Tiefseekriterium verwenden.(Auch bei unsern Fängen war das Vorwiegen der roth gefärbten Copepoden, Sagitten etc. in der Tiefe so auffallend, dass man einem frischen Fange mit blossem Auge ansehen konnte, ob er aus grössern Tiefen kam oder nicht.) Endlich sprechen, wie wir sehen werden, gewisse Züge der Organisation unverkennbar für diese Annahme.

Wir müssen aber noch weiter gehen. Die Ueberlegung, dass auch die zahlreichen Tiefenfänge keine geschlechtsreife Chrysomitra, sowie kein Furchungsstadium und keine Planula erbeuteten, dass ferner, obwohl bald darauf Millionen jüngster Ratarien an der Oberfläche auftraten, doch nicht Hunderte, sondern nur einige Dutzend jüngere Larven durch diese Fänge erhalten wurden, spricht dafür, dass wir mit unsern Netzen die eigentliche Heimath derselben noch nicht erreicht haben. Ja es scheint, dass vor Allem die „Brutstätte“ der Velella in den abyssischen Tiefen des Mittelmeeres zu suchen ist.

Demnach würden wir uns zu denken haben, dass die — zur Eigenernährung unfähigen — Chrysomitren, alsbald nachdem sie in gewaltigen Wolken von einem Schwärm losgelöst sind, in die grösst erreichbare Tiefe herabsinken, um hier (oder unterwegs) geschlechtsreif zu werden und jene grossen, rothgefärbten Eier zur Entwicklung zu bringen. (Es wird ein Augenmerk darauf zu richten sein, ob bei den Geschlechtsmedusen eine negative Phototaxis nachzuweisen ist, wie ich sie oben als Veranlassung der Tiefenwanderung junger Phronimiden erwähnte. Vor allem aber würde positive Barotaxis in Betracht kommen. Die (bisher auf diesen Punkt nicht gerichtete) Beobachtung gefangener Velellen zeigt nur ein schnelles Zubodensinken der gelösten Chr., das zunächst passiv zu sein schien.

Auch stark geschädigte Velella werfen noch hunderte von Chrysomitren ab. Der Boden eines kleinen Aquariums ist schnell bedeckt von ihnen. Sie sind von stark unterschiedlicher Größe.

Ebenso soll in diesem Jahre noch auf einen andern Punkt besonders geachtet werden. Bekanntlich besitzen die Velellen zahlreiche gelbe und bräunliche Zoochlorellen, von denen eine (sehr inconstante) Quantität den Geschlechtsmedusen mitgegeben wird. Für diese wären die Algen als assimlirende Symbionten nur dann von Werth, wenn erstere sich — vor der Geschlechtsreife — längere Zeit in belichteten Zonen aufhielten.

Da nun die „gelben Zellen“ in den bisher untersuchten Chr. meist kernlos erscheinen und oft ihre Inhaltskörner und -kugeln im Entoderm der Meduse zerstreut sind, so liegt es nahe, sie weniger als active Ernährer, als vielmehr als mitgegebene Nährsubstanz aufzufassen.)

Dieses Aufsuchen grosser Tiefen dürfte zwei vortheilhafte Seiten haben. Der Nachtheil des Nahrungsmangels fällt für diese Medusen, welche so wie so von der mitgebrachten Substanz zehren, fort, ebenso für das einzige Ei der Weibchen, das wiederum von der Chrysomitra alle Stoffe erhält, um bis zum Durchbruch der Mundöffnung an der zur Conaria umgebildeten Planula damit auszukommen. Unter diesen Umständen liegt der Vortheil, den die ruhige, an Feinden relativ arme Tiefsee für die massenhafte Nachkommen- bezw. Vorläuferschaft eines Velellenschwarms bietet, auf der Hand.

Da wir ferner (vgl. unten) annehmen müssen, dass von der Brutstätte aus die Larven einfach passiv, durch die Bildung specifisch leichter Stoffe, gerade aufsteigen, ergiebt sich daraus ein zweiter wesentlicher Vortheil. Ein Velella-Schwarm hat nur dann Aussicht, überhaupt zur Neubildung von Geschlechtsmedusen zu gelangen, wenn die Ratarien auf hoher See aus dem Plankton auftauchen — und die finden sie über den grossen Tiefen.

Man thut vielleicht gut daran, diese Betrachtung in den Vordergrund zu stellen und zu sagen: damit jeder neuen Velellen-Generation das Auftauchen auf hoher See, wo allein sie ihre Existenzmöglichkeit findet, thunlichst garantirt wird, musste ihre Entstehung in jene Schichten verlegt werden, über denen sich im Allgemeinen die küstenfernsten Meeresflächen befinden. In der That sieht man zur Erreichung dieses nothwendigen Ziels keinen andern Weg: gerade auf die hohe See würde kein Tropismus, keine Eigenbewegung von überallher die Nachkommenschaft auch in Landnähe verschlagener Schwärme zurückführen können, wie dieser eigenthümliche Umweg über die Tiefsee es thut. Eine secundäre Anpassung an diesen Umweg wäre dann, dass die Chrysomitra von der Muttercolonie Nahrung genug mitbekommt, um jene Schichten aus eignem Vermögen zu erreichen, ferner, dass sie ihrerseits nur ein Ei mit genügend Dotter ausrüstet, damit die Larve sich entwickeln und aufsteigen kann, bis die Eigenernährung wieder einsetzt. (Wir hätten demnach in diesen Verhältnissen ein Beispiel vor uns, wie ein Thier temporärer Bewohner der Tiefsee werden kann, ohne an ihre Ernährungsweise (entweder Detritusfresser, oder Fleischfresser mit Leucht-, Fang- und Spürorganen) angepasst zu sein.)

So gelangen die jungen Ratarien also schliesslich an den Ort ihrer Bestimmung, den Wasserspiegel der offenen See, wo sie den Verschluss ihrer „Luftflasche“ sprengen (s. S. 370), Luft einpumpen und so zu ihrer bekannten Stellung aufzutauchen vermögen. Mit dem Ueberwachsen des Saugporus durch das Segel, der Bildung von Secundärporen und Ringkammern etc. wird der definitive Zustand, zu dem noch die bekannte Schiefstellung des Segels fehlt, allmählich erreicht, worauf endlich die erneute Abgabe von Geschlechtsmedusen in die Tiefe den Kreislauf schliesst. (Diese Vorgänge sind durch Chun bereits bekannt geworden; doch treten diese nicht, wie Ch. meint, zur primären Luftflasche (über welcher sie angelegt werden), sondern zur ersten Ringkammer in Beziehung, die sich dadurch von den spätem Ringkammern unterscheidet, dass sie die Centralflasche zunächst bis hoch hinauf umscheidet, während letztere nur um den untern Rand angelegt werden.

Die neueste Publication über unsern Gegenstand (Schneider, in: Zool. Anz., 1898, No. 558) kommt zu ganz unhaltbaren Vorstellungen, die durch das unzureichende Material (eine „nicht ganz tadellos erhaltene“ Schnittreihe durch eine Larve, deren erste Ringkammer bereits fertig war, ferner ältere Ratarien mit 8 Ringkammern) zu erklären sind. Indem der Autor den Angaben Chun’s entschieden widerspricht, glaubt er den Primärporus neben dem Kamm zu sehen (in Wirklichkeit einer der Secundärporen, da der centrale Primärporus auf diesem Stadium längst überwachsen ist). Damit hängt seine Auffassung des Kammes als eines primären seitlichen Deckstücks zusammen. Ferner soll der Primärporus „der chitinigen Auskleidung entbehren und keine Ausmündung der chitinigen Luftflasche darstellen“ (cf. Fig. 17 u. 18!). Ferner „muss“ S. „ganz besonders die Ausbildung zweier Ersatzporen bestreiten“ (deren einer ihm in dem geschilderten Primärporus vorlag, während er den zweiten als späterhin mit der ersten Ringkammer communicirend ebenfalls selbst beschreibt). Weiterhin lässt er jene „von Chun [über der umkammerten Flasche] erwähnten Verdickungen des Luftschirms mit der 8. [!] Ringkammer in Verbindung treten.“ Schwer verständlich ist die scharfe Art, mit welcher der Verfasser diese Angaben den eindeutigen Resultaten, die sein Vorgänger an wesentlich jüngern Stadien gewann, entgegen stellt.)

aus: Woltereck R. (1904): Ueber die Entwicklung der Velella aus einer in der Tiefe vorkommenden Larve. Erste Mittheilung über die Tiefenplankton-Fänge der Zoologischen Station in Villefranche s. m. Zoologische Jahrbücher, Supplement-Band VII, Festschrift zum 70. Geburtstage des Herrn Geh. Raths Prof. Dr. A. Weismann, pp. 347 – 372, Tafeln 17-19. Kostenloser Download: https://www.biodiversitylibrary.org/item/49928#page/7/mode/1up

Ich habe im Zitat die Original-Orthographie des Jahre 1904 beibehalten, sie ist so charmant. Ansonsten ist der Text unverändert, lediglich die zahlreichen Fußnoten wurden von mir an entsprechender Stelle in Klammern in den Fließtext integriert, um die Lesbarkeit im Frame zu verbessern.

Segelquallen sind ästhetisch sehr ansprechende Geschöpfe

Nimmt man gestrandete Velella mit (sie nesseln übrigens die menschliche Haut nicht, aber eine gewisse Vorsicht ist besonders Allegikern zu empfehlen. Vor allem sollte man nach einer Berührung von Segelquallen nicht in die Augen oder an Schleimhautflächen fassen), so kann man vieles beobachten, das Woltereck schildert. Auch den Verlust der Schwimmfähigkeit; bei nicht zu sehr geschädigten Velella kann man die Schwimmfähigkeit allerdings wiederherstellen, indem man sie sanft mit einer stumpfen Pinzette am Segel nimmt, aus dem Wasser hebt, vorsichtig das anhaftende Wasser abschnickt und sie dann wieder auf die Wasseroberfläche aus kurzer Höhe fallen lässt. So halten sich die Segelquallen in einem mit Meerwasser gefüllten Behälter einige Tage, bevor sie zu zerfallen beginnen. Füttern muss man sie in dieser Zeit nicht; sie besitzen ja Zooxanthellen, also symbiotische Gewebs-Algen, die, wenn der Behälter nicht völlig dunkel steht, die Grundversorgung übernehmen. Hier befindet sich übrigens eine Logik-Lücke bei dem sonst so genauen Woltereck: woher kommen die Zooxanthellen in den fertigen Velella, wenn sie den Tiefsee-Geschlechtstieren nur als Nährstoffvorrat mitgegeben werden? Ich denke eher, es gibt beides: kernlose Algen als Nährstofflieferanten und kernhaltige Algen-Zellen, die den Grundstock der Symbiontenflora der asexuellen Oberflächenform bilden. Übrigens: wenn Velella im Beobachtungsbehälter zu zerfallen beginnen, färbt sich das Wasser intensiv blau, offenbar durch den tiefblauen Zellfarbstoff im Weichkörperrand der Segelqualle. 

Auch diese Schönheiten strandeten mit den Velella, aber ihnen ist mit Vorsicht zu begegnen: Nesselquallen der Gattung Cyanea (es handelt sich wohl um Cyanea capillata, die Gelbe Nesselqualle, auch Löwenmähne genannt) . Sie können für schmerzhafte Urlaubserinnerungen sorgen!

Im Labor ist die Aufzucht von Velella bereits gelungen; experimentierfreudigen Aquarianern tut sich hier ein weites Beobachtungsfeld auf. 

Ein kleine Flotte von Segelquallen im Aquarium: das hat was!

Frank Schäfer

Über den Autor Frank Schäfer

Frank Schäfer, geboren 1964, Biologe, seit frühester Jugend Tier- und Pflanzenhalter aus Leidenschaft. Sein besonderes Interesse gilt seit jeher den Fischen, aber Reptilien, Amphibien, Wirbellose, Kleinsäuger und Vögel sowie eine Vielzahl von Pflanzen begeistern ihn ebenso.

Seit 1980 Mitglied im Verein für Aquarien- und Terrarienkunde Hottonia e.V., dort seit 1982 auch immer wieder Vorstandsämter (Gartenwart, Redakteur der Vereinszeitschrift, 1. Schriftführer), seit 1982 Mitglied in der Internationalen Gemeinschaft für Labyrinthfische (IGL), seit 1992 auch im European Anabantoid Club (EAC). Erste Fachartikel über Pflege und Zucht von Puntius vittatus, Macropodus opercularis, Trionyx ferox und Polypterus senegalus in der Hottonia-Post 1981; erste große Fischfangreise in die Tropen 1983 nach Sumatra, worüber anschließend zahlreiche Aufsätze in der Hottonia-Post, der Zeitschrift „Der Makropode“ und „Das Aquarium“ erschienen; von da an regelmäßig Publikationen in vielen aquaristischen Fachzeitschriften, sowohl national wie auch international. Seither außerdem jährlich mehrere Dia-Vorträge auf nationalen und internationalen Tagungen.

Studium der Biologie in Darmstadt von 1984-1989, Abschluss als Diplom-Biologe mit den Prüfungsfächern Zoologie, Botanik, Ökologie und Psychologie. Diplomarbeit bei Prof. Ragnar Kinzelbach zum Thema „Wirtspezifität der Glochidien von Anodonta anatina“.

Zahlreiche Fang-, Sammel- und Studienreisen in das europäische Ausland, die Türkei, Sambia und vor allem Indien; Forschungsschwerpunkt ist die Süßwasserfischfauna des Ganges mit dem Ziel einer kompletten Revision der Arbeit von Francis Hamilton (1822): An account of the fishes found in the river Ganges and its branches. Edinburgh & London. Wissenschaftliche Erstbeschreibung von Oreichthys crenuchoides und gemeinsam mit Ulrich Schliewen von Polypterus mokelembembe. Wissenschaftliche Besuche und kurzzeitige Arbeiten in den zoologischen Sammlungen von London, Paris, Brüssel, Tervueren, Wien, Berlin, Frankfurt und München.

Seit 1996 bis heute Redakteur bei Aqualog und wissenschaftlicher Mitarbeiter zur Fischbestimmung bei Aquarium Glaser, Rodgau. In dieser Zeit verantwortlich als Autor oder Co-Autor von über 20 Büchern und über 400 größeren Fachartikeln, nicht nur bei Aqualog, sondern bei nahezu allen deutschsprachigen Fachverlagen, vereinzelt auch in internationalen Publikationen. Seit 2009 Betreuung der Homepage und des Newsletters bei Aquarium Glaser mit 3-5 Posts pro Woche. Nach wie vor leidenschaftlicher Tier- und Pflanzenpfleger, quer durch den Gemüsegarten: Aquaristik (Süß- und Seewasser), Terraristik, Teichpflege, Kleinvögel.

Frank Schäfer ist verheiratet und hat zwei Töchter, die 1989 und 1991 geboren wurden.

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