Die Größte und die Kleinste unter einem Dach

Die Größte und die Kleinste was? Das wissenschaftlich exakt auszudrücken ist sprachlich etwas komplex: die jeweils größte und die kleinste im Süßwasser lebende mehrzellige, zu den Blütenpflanzen zählende Wasserpflanze mit Schwimmblättern sind gemeint! Es gibt nämlich größere Wasserpflanzen – Tange – im Meer und einzellige Algen im Süßwasser sind noch deutlich kleiner. Aber die meinen wir ja nicht. Wir meinen „richtige“ Blütenpflanzen!

Die Blütenfarbe der Victoria amazonica ändert sich von weiß nach rosa im Laufe ihres kurzen Lebens

Die größte ist die Riesenseerose Victoria amazonica. Ihre gigantischen Blätter erreichen einen Durchmesser von bis zu 3 Meter. Für dieses Gewächs wurden ab Mitte des 19.ten Jahrhundert besondere Gewächshäuser gebaut. Und natürlich hat auch der Botanische Garten in Leiden, Niederlande, einer der ältesten botanische Garten der Welt, eines. Der Hortus Botanicus wurde 1590 gegründet. Zum ersten Mal blühte die Victoria dort im Jahr 1872. Das Gewächshaus „Viktoria“, in dem sie gegenwärtig lebt, wurde 1937-38 erbaut.

Blühende Victoria amazonica im Gewächshaus des Hortus Botanicus in Leiden, Oktober 2016

Die Riesenseerose wurde 1801 von dem böhmischen Universalgelehrten Thaddäus Haenke für die westliche Welt erstmals entdeckt. Haenke war eine faszinierende Persönlichkeit, wurde jedoch zu Lebzeiten von der wissenschaftlichen Welt stets mit Misstrauen betrachtet; er starb unter ungeklärten Umständen 1816 in Peru, ein Mord wird nicht ausgeschlossen. Haenke entdeckte die Victoria im Rio Mamoré.

Die Knospe öffnet sich.

Die Tupi-Indianer des Amazonas kannten dieses eindrucksvolle Gewächs aber natürlich schon immer. Sie erzählen folgende Legende über sie (nach Prance & Arias, 1975): Naué, die schöne Tochter des Häuptlings, verliebte sich in den Mond, als sie eines Nachts seinen Widerschein auf dem Wasser sah. Von da an konnte Naué es nicht mehr lassen, den Widerschein zu betrachten, von dem der Schamane sagt, er sei der Prinz der Region von Iuaca gewesen. Nach mehreren Tagen verschwand der Widerschein des Mondes vom See und Naué wurde sehr traurig. Sie wurde krank, einen Monat lang. Eines Nachts sah Naué in ihrem Liebeskummer erneut den Widerschein des Mondes im See. In dem Versuch, ihren Geliebten zu umarmen, warf sie sich ins Wasser und versank. Der Gott Tupa war angerührt vom Schicksal Naués und verwandelte ihren Körper in die schönste Blume des Sees, die Victoria amazonica.

Die Unterseite der gewaltigen Blätter ist sehr stachelig (Aufnahme aus der Wilhelma in Stuttgart)

Wie so viele Legenden enthält auch diese eine Naturbeobachtung: die Blüte der Victoria öffnet sich nämlich nur nachts vollständig. Und sie lebt nur wenige Tage. Hingegen ist es eine moderne Legende, dass die Riesenseerose nur einmal in ihrem Leben für ein Nacht blüht. Tatsächlich blüht sie ziemlich häufig, bei uns meist in den Sommermonaten. Übrigens entstand ein Teil der Photos der blühenden Victoria in Leiden im Oktober, also spät im Jahr.

Junges Blatt.
Die Blätter von Victoria amazonica sind am Rande aufgebogen, was die Stabilität verbessert. Das Teichuhn ist für die Riesenseerose allerdings wirklich keine Herausforderung (Aufnahmen aus der Wilhelma in Stuttgart)

Zum Leben braucht die Victoria amazonica Temperaturen zwischen 28 und 30°C, enorm viel Platz und enorm viel Licht. In Europa wird sie darum meist nur einjährig gezogen. Man vermehrt sie über Samen, die im Winter ausgesät werden und überwintert sie als Jungflanze. Es ist wichtig, dass des Samen nie trocknet. Manche sagen, es genüge schon, wenn er nur kurz an die Luft kommt, um die Keimfähigkeit zu vernichten. Eine weitere Legende?

Sämlingspflanzen in Leiden. Es gibt nur wenige, winzige Unterwasserblätter, die ersten Schwimmblätter haben noch keinen aufgebogenen Rand.

Es gibt eine zweite Victoria-Art, Victoria cruziana, die ein wenig kleiner bleibt, sonst aber V. amazonica extrem ähnlich ist. Während die V. amazonica im Amazonas und seinen Nebenflüssen lebt, kommt V. cruziana aus dem Paraná-Paraguay-System. Dort ist es zeitweise deutlich kälter als im stets hochtropischen Amazonas-Gebiet, weshalb V. cruziana etwas weniger anspruchsvoll in der Kultur ist. Wegen der Ähnlichkeit beider Arten sind wohl auch teilweise Hybriden der beiden in Kultur, wenngleich das grundsätzlich unerwünscht ist. Die Bestäubung von Victoria-Seerosen übernehmen übrigens Käfer in der Natur. In menschlicher Obhut werden sie von Hand bestäubt.

Wolffia sp. im Hortus Botanicus in Leiden. Zum Größen-Vergleich dazwischen ein paar gewöhnliche Wasserlinsen (Lemna minor).

Die meisten Besucher des Victoria-Hauses werden wohl achtlos an der kleinsten Blütenpflanze der Welt vorbeigehen, die dort ebenfalls kultiviert wird, der Zwergwasserlinse Wolffia. Sie sieht auch nur aus wie grüne Farbe auf dem Wasser, nur wenn man die altersmüden Augen anstrengt, erkennt man winzige Blättchen von 0,5 – 1,5 mm Größe. Die Gattung Wolffia besteht aus 10-11 Arten; welche im Hortus gepflegt wird, ist mir leider nicht bekannt, sie sieht aber W. arrhiza sehr ähnlich. Die kleinste Blütenpflanze der Welt überhaupt ist Wolffia angusta, die von Südostasien bis Australien verbeitet ist. W. arrhiza kommt auch in Europa vor, ist aber bei uns in Deutschland nicht winterhart. Sie stirbt ab, wenn die Temperatur dauerhaft unter die Frostgrenze sinkt. Ihre stete Wiederbesiedlung erfolgt demnach wohl als blinder Passagier im Gefieder der Zugvögel, wozu sie ihre Winzigkeit ja prädestiniert. Im Gegensatz zur gewöhnlichen Wasserlinse oder Entengrütze (Lemna minor), die im Aquarium zur fast unausrottbaren Plage werden kann (ein Tipp am Rande: ein kleiner Goldfisch löst das Problem in wenigen Wochen), besteht diese Gefahr bei Wolffia nicht. Allerdings hat die Pflanze auch nichts besonders anziehendes. Aber der botanisch interessierte gönnt ihr vielleicht trotzdem ein kleines Wassergefäß auf der sonnigen Fensterbank, der kleinsten Blütenpflanze der Welt!

Frank Schäfer

Literatur:

Kasselmann, C. (1995): Aquarienpflanzen. Stuttgart.

Prance, G. T. & J. R. Arias (1975): A study of the Floral Biology of Victoria amazonica (Poepp.) Sowerby (Nymphaeaceae). Acta Amazonica 5 (2): 109-139


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Über den Autor Frank Schäfer

Frank Schäfer, geboren 1964, Biologe, seit frühester Jugend Tier- und Pflanzenhalter aus Leidenschaft. Sein besonderes Interesse gilt seit jeher den Fischen, aber Reptilien, Amphibien, Wirbellose, Kleinsäuger und Vögel sowie eine Vielzahl von Pflanzen begeistern ihn ebenso.

Seit 1980 Mitglied im Verein für Aquarien- und Terrarienkunde Hottonia e.V., dort seit 1982 auch immer wieder Vorstandsämter (Gartenwart, Redakteur der Vereinszeitschrift, 1. Schriftführer), seit 1982 Mitglied in der Internationalen Gemeinschaft für Labyrinthfische (IGL), seit 1992 auch im European Anabantoid Club (EAC). Erste Fachartikel über Pflege und Zucht von Puntius vittatus, Macropodus opercularis, Trionyx ferox und Polypterus senegalus in der Hottonia-Post 1981; erste große Fischfangreise in die Tropen 1983 nach Sumatra, worüber anschließend zahlreiche Aufsätze in der Hottonia-Post, der Zeitschrift „Der Makropode“ und „Das Aquarium“ erschienen; von da an regelmäßig Publikationen in vielen aquaristischen Fachzeitschriften, sowohl national wie auch international. Seither außerdem jährlich mehrere Dia-Vorträge auf nationalen und internationalen Tagungen.

Studium der Biologie in Darmstadt von 1984-1989, Abschluss als Diplom-Biologe mit den Prüfungsfächern Zoologie, Botanik, Ökologie und Psychologie. Diplomarbeit bei Prof. Ragnar Kinzelbach zum Thema „Wirtspezifität der Glochidien von Anodonta anatina“.

Zahlreiche Fang-, Sammel- und Studienreisen in das europäische Ausland, die Türkei, Sambia und vor allem Indien; Forschungsschwerpunkt ist die Süßwasserfischfauna des Ganges mit dem Ziel einer kompletten Revision der Arbeit von Francis Hamilton (1822): An account of the fishes found in the river Ganges and its branches. Edinburgh & London. Wissenschaftliche Erstbeschreibung von Oreichthys crenuchoides und gemeinsam mit Ulrich Schliewen von Polypterus mokelembembe. Wissenschaftliche Besuche und kurzzeitige Arbeiten in den zoologischen Sammlungen von London, Paris, Brüssel, Tervueren, Wien, Berlin, Frankfurt und München.

Seit 1996 bis heute Redakteur bei Aqualog und wissenschaftlicher Mitarbeiter zur Fischbestimmung bei Aquarium Glaser, Rodgau. In dieser Zeit verantwortlich als Autor oder Co-Autor von über 20 Büchern und über 400 größeren Fachartikeln, nicht nur bei Aqualog, sondern bei nahezu allen deutschsprachigen Fachverlagen, vereinzelt auch in internationalen Publikationen. Seit 2009 Betreuung der Homepage und des Newsletters bei Aquarium Glaser mit 3-5 Posts pro Woche. Nach wie vor leidenschaftlicher Tier- und Pflanzenpfleger, quer durch den Gemüsegarten: Aquaristik (Süß- und Seewasser), Terraristik, Teichpflege, Kleinvögel.

Frank Schäfer ist verheiratet und hat zwei Töchter, die 1989 und 1991 geboren wurden.

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Ein Kommentar zu “Die Größte und die Kleinste unter einem Dach

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